Einmal als Skilehrer über die Pisten wedeln, bevor weiche Knie und ähnliche Alterszipperlein den Jugendtraum zunichte machen. Kurz vorm 50. Geburtstag habe ich es gewagt. Nicht irgendwo, sondern dort, wo sich die Besten des weißen Sports auf der legendären Streif alljährlich die Kante geben. Im österreichischen Kitzbühel (Tirol) bei der berühmten Skischule der „Roten Teufel“. Ein Erlebnisbericht.
Die Entscheidung stand innerhalb von Stunden. Katrin begegnete mir an einem grauen und verregneten Novembernachmittag in Berlin mit einem Lächeln, das von der Gewissheit gespeist war, schon bald wieder das Weite suchen zu können. Als Besitzerin einer gut nachgefragten Bungalowanlage auf Ibiza hat sie im Winter regelmäßig ihre free season. Normalerweise nutzt sie die Zeit, um nach Thailand zu fliegen und sich Gutes zu tun.
Diesmal jedoch überraschte sie mit einem Klimawechsel. Bei Kerzenlicht, Lammkeule und Rotwein erzählt sie, dass sie in wenigen Tagen nach Österreich abzureisen gedenke, um in Kitzbühel die 11-tägige Anwärterprüfung zur Skilehrererin bei den Roten Teufeln abzulegen. Da schon am nächsten Tag Anmeldeschluss ist, bleibt keine Zeit, um abzuwägen oder zu hinterfragen. Ganze zehn Tage bleiben mir noch, um die notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Meinen kleinen Sohn trösten, Kunden informieren und all ́ das, was man vor einer längeren Alpenmission noch regeln sollte.
Am Samstagmorgen des 5. Dezember besteige ich also – bepackt wie ein indischer Lastenelefant – den ICE via München, wo mich Katrin sechs Stunden später in Empfang nimmt. In ihrem gefühlten 20 Jahre alten Passat geht es dorthin, wo wir uns seit frühester Kindheit am wohlsten fühlen. In die Berge. Dorthin, wo uns die Lust an der Luft den Atem raubt und wir automatisch tiefer inhalieren, weil wir wissen, dass das hier noch richtig gesund ist.
Kitzbühel empfängt uns kühl und mit Schneefall. Im Dunkeln müssen wir das uns zugedachte Skilehrerheim in der Schattbergsiedlung finden, die sich ganz in der Nähe der berühmten Hahnenkammbahn befinden soll. Nachdem wir zwischenzeitlich tief verschneiten Vorgarten einer großzügig angelegten Villa herumgestapft sind, stellen wir alsbald fest, dass sich unsere, etwas bescheidenere Bleibe, auf dem Nachbarsgrund befindet
Miro, ein sympathischer Pole Anfang 30, ist schon vor einer Stunde eingetroffen und scheint sichtlich erleichtert darüber zu sein, dass er nicht mehr allein ist. Müde und mit glanzlosen Augen schauen wir uns die Räumlichkeiten an. Was wir sehen reicht, um verwöhnten Zeitgenossen psychologische Betreuung zuzubilligen. Uns wird klar, dass wir den günstigen Unterbringungspreis von 170 Eurotalern für elf Tage mit einem weitgehenden Verzicht auf hygienische Standards bezahlen werden. Auch Katrin, eine Frau zum Pferdestehlen schluckt kurz. Nach einer schnellen Worst Case Analyse entscheiden wir uns für das einzige Zweibettzimmer auf der Bel Etage mit Balkon, Kleiderschrank und Waschbecken samt Spiegel. Andere trifft es härter. Nach der Devise „wer zu spät kommt, den bestraft sein Lager“, müssen spätnachts eintreffende Skilehreraspiranten ihr müdes Haupt auf Matratzen ohne Rost im Fünfbettzimmer betten und aus dem Koffer leben. Nach einem schnellen Bierchen in der ungemütlichen Küche kehrt Ruhe ein. Dass es sich dabei um die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm handelt, ahnen wir nicht.
Rudi Sailer Senior, Leiter der Skischule, Bruder des österreichischen Jahrhundertsportlers Toni und selbst ehemaliger Rennläufer und Olympionike, hat sich mit Petrus abgesprochen
und gleich zum Einstand bei seinen Roten Teufeln eine Wetterhölle zusammen gebraut. Das Thermometer zeigt Minus 17 Grad. Genau die richtige Temperatur um daitschen Anwärtern Anspruchsdenken, Wehleidigkeit und Selbstüberschätzung auszutreiben. Als wir die Gondel der Fleckalmbahn in Kirchberg bei Kitzbühel verlassen, empfängt uns ein eisiger Schneesturm, dem die Anno 1978 in den Dolomiten erstandene Ostersonnenskijacke nichts entgegen zu setzen vermag. Meine Hände stecken in Skihandschuhen, die den Namen nicht verdienen und wenige Zentimeter weiter unten nimmt eine andere Geschichte ihren schmerzhaften Anlauf. Meine guten alten Skischuhe sind mutiert. Oder sind es die Füße, die mir meinen letzten Marathonlauf noch übel nehmen? Ich beruhige mich damit, dass es doch immer ein paar Tage braucht, um sich den alpinen Bedingungen anzupassen. Doch das soll ich im Laufe der nächsten Tage noch bereuen.
Der Großwetterlage entsprechend, fällt die Begrüßung unseres Ausbilders frostig aus. Beppo heißt der Bilderbuchtiroler, der von nun an über Wohl und Wehe unserer Karriere befinden wird. Sein Urteil wird maßgeblich darüber entscheiden, ob das Dasein auf zwei Brettern, die mir schon immer auch ein zweites Leben bedeutet haben, formidablen neuen Schwung erfährt oder sich in einem einsamen Ziehweg verliert. Ich beruhige mich damit, dass ich zumindest in punkto Ski bestens ausgerüstet bin. Ralf, ein Freund aus Berlin, hat mir seinen Atomic Slalom Carver Ski ausgeliehen. Also einen Ski der Marke, die hierzulande schon aus Lokalpatriotismus gerne gesehen wird. Ein Atomic sollte dann auch fünf Wochen später die weltberühmte Abfahrt auf der Streif in Bestzeit attackieren. Allerdings von Schweizerfüßen dirigiert, was den Töchtern und Söhnen der Alpenrepublik gar nicht gefallen hat. Aber der Reihe nach.
Unser Kurs beginnt mit einer kurzen Demonstration des so genannten Eigenkönnens. Jeder der insgesamt neun Anwärter muss unter den aufmerksamen Augen von Beppo einen mäßig geneigten Hang obi schwingen. Souverän wedele ich die kurze Strecke hinunter. Doch weder Lob noch Kopfnicken. Stattdessen gibt Beppo in wenigen Worten – merke: der Tiroler an sich fasst sich gerne kurz – zu verstehen, dass ich „zu weit hinten sitze“ und „sich dös nit ausgeht“. Auch Katrin, die schon als 3-jährige in St. Anton am Arlberg bei Karl Schranz höchstpersönlich das Bretterln erlernte, erntet kein Wohlwollen. Mir wird klar, dass wir uns hier im doppelten Sinne warm anziehen müssen. Als wir gegen 13 Uhr mit beschlagenen Skibrillen in eine typische Tiroler Hütte hereinpoltern, dauert es, bis sich die verfrorenen Gesichtszüge wieder entspannen. Doch kaum ist die Fritatensuppe mit Brot ausgelöffelt, geht’s schon wieder aussi. Wenn man jetzt wenigstens mal 15 Minuten nach Herzenslust Skifoahn könnte. Doch daran ist nicht zu denken. Beppo nimmt seine Aufgabe sehr ernst und liebt den theoretischen Vortrag. Wir stehen derweil stocksteif am Hang und frieren
jämmerlich. Meine Füße spüre ich so wenig wie meine Hände. Hinzu kommen deprimierende Übungen, die wir zuletzt im Alter von sechs Jahren gefahren sind. Schneepflug und Kurven an einem Hang, der diese Bezeichnung nicht verdient. Natürlich hat das einen tieferen Sinn. Denn je langsamer man fährt, umso schwieriger ist es, dem geforderten alpinen Fahrverhalten nachzukommen.
Gegen 15 Uhr entkommen wir endlich der weißen Hölle vom Hahnenkamm. Wenig später finden wir uns müde und abgekämpft in der schmuck- und fensterlosen Allzweckhalle der Gemeinde Kirchberg wieder. Theorie steht auf dem Programm. Materialkunde, Schutz der Umwelt, methodische Grundsätze, Erste Hilfe und noch mehr von dem was, ein Skilehrer später ahnungslosen Anfängern vermitteln soll. Allein der Geruch von 300 schwitzenden Probanden verschlägt einem den Atem. Die Aufnahmefähigkeit geht gen Null und wir amüsieren uns über diejenigen, die den Strapazen des Tagesnichts mehr entgegen setzen können und sitzend eingeschlafen sind.
Zwei Stunden später verlassen wir die Halle. Draußen ist es dunkel und der Schneefall einem Eisregen gewichen. Also zuerst mal blinde Scheiben frei kratzen. Wir fluchen was das Zeug hält und wollen endlich nach „Hause“. Dort angekommen fallen wir todmüde in unsere Betten. An eine Nachbearbeitung der Theorie ist nicht zu denken. Schließlich müssen wir um sieben Uhr Morgens wieder raus und brauchen jede Stunde Schlaf.
Die folgende Woche erinnert fatal an den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Ein Tag gleicht dem anderen. Zudem wird es immer kälter. Der Himmel ist mal grau, mal nebelverhangen und der Wind scheint uns den Wunsch, Skilehrer werden zu wollen, aus dem Hirn blasen zu wollen. Meinen Füßen ist trotz teurer Skisocken nicht mehr zu helfen. Sie sind beleidigt und lassen mich das bei jedem Schwung spüren. Notgedrungen wird die knapp bemessene freie Zeit genutzt, um diverse Skischuhe auszuleihen. Doch auch Marken wie Lange oder Rossignol scheinen nicht für meinen Leisten ausgelegt zu sein. Allein der legendäre Strolz könnte eventuell Linderung verschaffen, aber der Preis schreckt mich ab. Also, Zehen zusammenkneifen, salben, verpflastern und durch. Sind ja nur noch ein paar Tage, denke ich und tröste mich damit, dass ich mich nach bestandener Prüfung für die Weihnachtstage nach Berlin absetzen und die Füße hochlegen kann.
Am neunten Tag endlich die Wetterwende. Nach Durchstoßen der Wolkendecke in der Kabine der Bergbahn empfängt uns oben blauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Wenn es auch noch bitter kalt ist. Das schmerzlich vermisste Sonnenlicht entfaltet seine heilende Wirkung. Der Schnee ist nicht länger stumpf. Er glitzert. Hatten wir bisher oft nur
100 Meter Sicht, eröffnet sich uns nun erstmalig das grandiose Bergpanorama der Kitzbühler Alpen. Auch der österreichische Bergkönig namens Großglockner lässt sich in der Ferne ausmachen. Sogar Beppos Miene hellt auf. Zwar ist er immer noch der Meinung, dass ich beim Kurven aussehe, als würde ich „a Handy am Ohr haben“, doch immerhin kommt ihm schon mal ein „dös geht sich aus“ über die Lippen. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich pauke wie alle anderen Theorie auf Teufel komm raus. Noch zwei Tage bis zur Prüfung.
Genau einmal sind wir ausgegangen und haben Kitzbühel bei Nacht erlebt. Als Russen! Katrin überrascht uns mit einer erstaunlichen Anzahl von mitgeführten Pelzmützen. Zusammen mit unserer Festtagsgarderobe werden wir dem Klischee der reichen Biznessmen durchaus gerecht. Ein paar pseudorussische Redensarten reichen aus und die Ehrfurcht der hiesigen Gastronomie wird uns ad hoc zuteil. Natürlich wundert man sich anfangs über unsere Getränkewünsche, aber wahrscheinlich denken sich die Herren der Edelschänken, dass die Russ halt einmal low profile unterwegs sind. Spätestens im Fünferl ist eh ́ nicht mehr auszumachen, zu wem welche Magnumflasche gehört. Wir lassen uns vom alkoholisierten Frohsinn anstecken und schunkeln zu Alpenevergreens wie Skifoahn, Heim nach Rosenheim und Speedy Gonzales.
Das Lokal ist proppenvoll und selbst, wenn man umfallen wollte, würde der Platz dafür nicht ausreichen. Dank Katrin, die wie eine russische Zarin auftritt, haben wir schnell einen lebensfrohen beleibten Sponsor gewonnen, der uns frei hält. Gegen 4 Uhr in der Frühe kehren wir in zurück. Der Tag danach macht uns klar, dass sich Aprés Ski und Ausbildung zusammen nit ausgeht. FORTSETZUNG FOLGT AM 10. FEBRUAR 2015