Wir Sonntagskinder

Sonntage halten selten, was sie versprechen. Schon als Kind verabscheute ich die erzwungene Sonntagsruhe mitsamt den verstaubten Ritualen. Den meisten Mitmenschen verdüsterte der unabwendbare Kaltstart in den nahenden Alltag die Seele. Oft hatte ich den Eindruck, dass ein Großteil der Erwachsenen, von den passionierten Sportlern und Lebenskünstlern einmal abgesehen, schlicht nichts mit sich anzufangen wusste. Eine willkommene Ausnahme bildeten hingegen immer die Sonntage, an denen „wir“ oder eine(r) von „uns“ in einem Finale stand(en). Sei es im Wasser, auf Asche, eisigen Pisten, heißem Asphalt, federndem Parkett oder auf heiligem Rasen. So wie am 7. Juli 1974. Wir hatten uns ins Endspiel der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land gekämpft. Nun ging es unter dem Hightechgewebe des Münchner Olympiastadions bei strahlendem Sonnenschein gegen die Niederlande. Alles andere als ein Sieg – das war schon vor Anpfiff der Partie klar – ging gar nicht. Als 14jähriger spielte ich selbstverständlich auch. Es gab für mich damals nichts Schöneres, als mit der Nummer 1 auf dem Rücken zwischen kantigen Vollholzpfosten hin- und her zu fliegen. Torhüter stehen im Mittelpunkt. Von ihren Reaktionen hängt es ab, ob Millionen Menschen aufatmen, aufstöhnen oder ausklinken.

Eine Katze aus Anzing wurde an diesem Sonntag zum „Man of the Match“. In der dramatischen Schlussphase des Spiels hielt Nationalkeeper Sepp Maier unseren Müller-Vorsprung, indem er alle Geschosse, die von unentwegt anstürmenden Holländern auf unser Tor abgefeuert wurden, wahlweise festhielt, weg faustete oder anderswie unschädlich machte. Was deutschen Tormännern wie Hans Tilkowski acht Jahre zuvor, Toni Schumacher und Oliver Kahn 18 bzw. 28 Jahre später an finalen Sonntagen versagt blieb, geschah. Wir wurden Weltmeister und dieses Gefühl war neu und wunderbar.

Morgen spielen wir wieder ein Finale. Nicht daheim, sondern weit weg im Süden. Da, wo wir vor wenigen Tagen noch das Mutterland des schönen und siegreichen Spiels vermuteten . Mein achtjähriger Sohn Felix entdeckt zurzeit den Torwart in sich und fiebert diesem besonderen Sonntag genau so entgegen wie ich vor ziemlich genau 40 Jahren. Diesmal geht es gegen die Argentinier und – soviel steht jetzt schon fest – alles andere als ein Sieg geht gar nicht. Schließlich steht ein Neuer im Tor.

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