Diesem Anfang wohnt viel Zauber inne

Die Premiere der ALLIANZ KUNDLER GRAND CHAMPIONS erweist sich als Glücksfall für den LTTC und den Tennisport in der Hauptstadt.

 

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Wir wollen uns gar nicht erst vorstellen wie es gewesen wäre, wenn sich außer Jim Courier auch Petrus unpässlich gezeigt hätte. Die Weisheit, dass sich das Glück vorzugsweise die Tüchtigen aussucht, nahm sich der himmlische Wettermacher offensichtlich zu Herzen und ließ selbige nicht im Regen stehen. Nach einem überraschend freundlichen Turnierauftakt am 27.Juni ging er am darauf folgenden Sonntag in die Vollen und hatte so großen Anteil daran, dass Tausende von Tennis begeisterten Sehfrauen und Sehmännern auf der weitläufigen Anlage des LTTC Rot-Weiß Berlin 1897 hinter ihren nunmehr ja tatsächlich unentbehrlichen Sonnenbrillen glänzende Augen bekamen.

Dabei hatte es anfangs nicht unbedingt danach ausgesehen, dass der wagemutige Pilot wie geplant über die große Bühne geht. Denn wie so oft, wenn sich wenige entschließen, etwas wirklich Neues auf die Beine zu stellen, gibt es auch immer jene, die versuchen, ihnen hierbei ein Beinchen zu stellen und solche, die sich darin üben, das gerade entstehende Große systematisch klein zu reden. Hinzu kommen jede Menge Eitelkeiten sowie unterschiedliche Ansichten darüber, wie dieses gewaltige Unternehmen profitabel, aber dennoch bezahlbar zu stemmen ist.

Gut, dass sich das Quartett bestehend aus LTTC Präsident Werner Ellerkmann, Sponsor David Patrick Kundler, Veranstalter Frank Lichte sowie LTTC Sportdirektor Markus Zoecke von nichts und niemandem beirren ließ. Zusammen mit den Vorständen des LTTC und ungezählten helfenden Händen gelang es in nur wenigen Wochen, dem seit Jahren unschön dahin siechenden Steffi Graf Stadion Glanz und Anmut zurück zu geben. Eine Kultstätte des europäischen Tennisportes wurde quasi über Nacht zur Geburtsstätte eines Turniers, das es bis dato in dieser Form noch nirgends gegeben hat. Neben den vorgenannten Herren trugen übrigens auch zwei rot-weiße Damen wesentlich dazu bei, dass sich der Club so souverän präsentierte wie lange nicht mehr. Klaudia Zoecke sorgte mit stilsicherer Hand und tatkräftiger Unterstützung der Villa Stein dafür, dass im Grand Slam endlich eine für preußische Verhältnisse schon fast glamourös anmutende Atmosphäre einkehrte. Auch die Betreuung prominenter Zeitgenossen, bei der bekanntermaßen ein gewisses Fingerspitzengefühl gefragt ist, war hier und bei den umsichtig agierenden Servicekräften und Sicherheitsteams in besten Händen. Katrin Kempe managte das bei solchen Erstaufführungen unvermeidliche administrative Chaos mit der stoischen Gelassenheit einer Marathonläuferin und behielt auch dann die Nerven, wenn Dritte wirklich nervten. Weitere Glücksfälle in Form von Mitgliedern, die mit ihrem Ideenreichtum, intelligentem netzwerken und selbstverständlicher Hilfsbereitschaft erhebliche finanzielle Einsparungen realisieren konnten, kamen hinzu. Hier werden sich nach gelungenem Auftakt in Zukunft sicherlich noch weitere Unterstützer finden.

Wie gut das neue Legenden Konzept funktioniert, wurde in dem Moment deutlich, als es aufs Äußerste gefährdet schien. Schließlich trat mit der extrem kurzfristigen Absage der vermeintlichen Zugnummer Jim Courier der GAU schon ein, bevor das Ganze überhaupt losging. Auch hier wollen wir uns lieber nicht vorstellen, was beispielsweise dem Veranstalter Frank Lichte angesichts dieser Absage durch den Kopf ging. Doch spätestens als der Spiritus Rektor des Turniers, Markus Zoecke, sichtlich übernächtigt in der Mitte des Center Court stehend, aus der Not eine Tugend machte, nichts schön redete und stattdessen ein „Jetzt erst recht“ in den Subtext brachte, freute man sich über seine Klasse und auf das Format.

Apropos Klasse. Wie der LTTC Hoffnungsträger „Rudy“ Rudolf Molleker erstmals vor großer Kulisse sein Match gegen den fulminanten Entertainer und wohl populärsten Tennisbotschafter der Grande Nation, Henri Leconte, gestaltete, machte deutlich, warum er den Spielern seiner Altersklasse längst enteilt ist. Beeindruckend unbeeindruckt spielte er Leconte die Bälle zu, ließ ihn seine Spielchen machen und punktete letztlich, ohne wirklich weh zu tun. Respekt. Dem Jungen sieht man an, dass er Federer als Vorbild hat.

Pat Cash, der nach wie vor einen Zug in der Vorhand und einen Schlag bei den Frauen hat, warf seine verschwitzen, heiß begehrten Stirnbänder mit der Grandezza eines Toreros in die Ränge. Wimbledon- und Olympiasieger Michael Stich präsentierte sich hingegen hanseatisch nüchtern und kämpferisch konzentriert. Er ist in diesem Kreis spielerisch die Nummer Eins und verzichtet fast gänzlich auf Show & Emotion. Warum sich mit denen messen, die das ganz offensichtlich besser können? Stich missioniert lieber seine Leidenschaft für technisch einwandfreies Tennis und teilt uneitel seine Expertise mit dem Nachwuchs. Wer dabei war als er am frühen Sonntagmorgen zwei hochkonzentrierten, jungen Topathletinnen auf Platz 1 geschlagene 75 Minuten Serviceunterricht vom Allerfeinsten spendierte, weiß, wie ungemein positiv der Mann tickt.

Leconte ist als Maitre de Plaisier „tout le Monde“ in seinem Element und gewinnt auch die Herzen des Berliner Publikums im Handumdrehen. Er hat sichtlich Spaß am Spiel und sorgt im Zusammenspiel mit dem kongenialen Tennisartist Monsieur Mansour Bahrami immer wieder für staunendes Raunen im Rund, dass früher oder später hoffentlich auch in Las Vegas vernommen wird. Als designierter Ehrenturnierdirektor der ALLIANZ KUNDLER GRAND CHAMPIONS hat es sich Ilie Nastase trotz gerade überstandener Operation nicht nehmen lassen, in Berlin dabei zu sein. Der fast 70jährige, mehrfache Grand Slam Sieger und ehemalige Nummer 1 im Welttennis freut sich sichtlich darüber, dass zu später Stunde auch sein junger Freund Henry zu großer Form aufläuft.

Mahnte unlängst noch Boris Becker, dass dem Tennis in Zukunft echte Typen fehlen könnten, so wäre er angesichts der Avantgarde vom LTTC und der Allianz dieser vier Tennisgrößen im Stadion seiner Wohnzimmerfreundin sicherlich begeistert gewesen.

Beim Abschied fällt der Blick auf eine vom Mondlicht beschienene Formation automobiler Legenden von betörender Linienführung. Unter anderen haben es sich zwei rassige britische Raubkatzen, eine Pagode mit Stern und ein ebenfalls phantastisch aussehendes französisches Cabriolet auf der roten Asche bequem gemacht, was wohl nicht allen gefallen haben soll. Dabei hat es sich schon der Symbolik wegen gelohnt, die rot-weiße Linie einmal im Jahr zu überfahren. Schließlich sind auch sie Champions einer Epoche, in der weniger Verzicht und Vorsicht und mehr Vermögen und Vertrauen das Denken und Handeln der Menschen inspirierte.

Die ALLIANZ KUNDLER GRAND CHAMPIONS werden auch 2016 eindrucksvoll beweisen, dass Akzeptanz, Attraktivität und Aura im Tennisport noch nie eine Frage des Alters war. In diesem Format treffen Expertise und Exzellenz auf Ehrgeiz und Vehemenz. Eigentlich kein Wunder, dass so etwas matcht.

 

 

 

 

 

Roter Teufel (Letzter Teil) – Mein Leben zwischen Himmel und Hölle

DSC_7960-1Während sich die anderen weit unten formieren, fahren wir gegen 17 Uhr mit der Hahnenkammbahn auffi. Der Zufall will es, dass ich zusammen mit einem jungen englischen Erstspringer namens Bruno die Toni Sailer Gondel mit der Nr. 1 erwische. Wir betrachten das als gutes Omen. Oben angekommen geht’s in die Hockeckhütte, die sich etwas versteckt wenige Meter oberhalb der Mausefalle befindet. Man hat von dort eine faszinierende Aussicht auf das tief unten glitzernde Kitzbühel. Der Besitzer Hocheck-Peter und sein kongenialer Maitre de Plaisier Franz verstehen sich auf eine Gastlichkeit, wie sie nur noch selten anzutreffen ist. Wer nicht gerade am Horn oder in Passthurn unterwegs ist, nimmt seine Jause am liebsten dort zu sich. Doch an diesem Abend haben die meisten keinen großen Appetit. Ich wähle eine Gulaschsuppe und trinke ein Radler. Daniel Cheffi Scheffknecht, ein junger muskelbepackter Rennläufer aus Tirol, bekämpft die aufkommende Nervosität mit einer Halben und Obstler.

Gegen 18 Uhr kommt das Kommando zum Aufbruch. Draußen ist es stockdunkel und eine Nebeldecke macht das Tal unsichtbar. Während ich noch darüber nachdenke, wie wir die zwei Kilometer bis zur Fackelausgabe in der Finsternis wohl bewältigen werden, geht es schon los. In kurzen Abständen fegen wir mit Carvingschwüngen ohne Stöcke die erste Teilstrecke hinunter. Andi fährt voraus. Er kennt die Strecke blind. Ich bin hin und weg, gehe tief in die Knie und empfinde eine nie erlebte Euphorie. Wenn es beim Tauchen einen Tiefenrausch gibt, dann ist das hier definitiv der Höhenrausch! Zum Glück sind die Schneeverhältnisse optimal. Die Kanten greifen, die Piste ist perfekt präpariert und alles geht gut. Kurz nach Durchstoßen der Nebeldecke kommen wir in einem Steilhang am Waldesrand zum Stillstand. Ich keuche und kann kaum glauben, wie wir gerade quasi blindlings abbi gefahren sind. Tief unten sehen wir die Lichter im Zielraum und nehmen den Lärm der

Menschen nur als undefinierbares Rauschen wahr. Andi verteilt die Fackeln und erklärt das Procedere. Nach Entzünden der Fackeln sollen wir möglichst synchron hinab schwingen bis wir an einer hell erleuchteten Stelle in Schleichfahrt die Fackel abwerfen müssen, um direkt darauf nonstop den Runway Richtung Rampe anzusteuern. Jetzt packt mich die Angst. War ich doch fest davon ausgegangen, dass wir vor dem Sprung noch einmal abschwingen und Atem holen dürfen. Viele von uns steigen aus der Bindung und produzieren Yellow Snow. Manche sind stumm, andere reißen Witze oder nesteln nervös an den Schnallen ihrer Schuhe herum. Zu allem Überfluss klingelt mein Handy. Nervös fingere ich es aus der linken Brusttasche und höre die Stimme meines guten Freundes Richi, der mir Neujahrsgrüße aus Berlin übermitteln will. Ich erkläre ihm mit wenigen Worten und heiserer Stimme, dass ich mitten auf der Streif stehe gleich durchs Feuer hupfen werde. Er ist auch begeisterter Skifahrer und checkt die Situation sofort. Er wünscht mir viel Glück und ich spüre, wie gerne er jetzt dabei wäre.

Die Zeit zieht sich. Immer wieder schnarrt die Stimme von Ernst aus dem Funkgerät. Er steht unten und koordiniert das Geschehen, während ein Moderator die Stimmung der Massen anheizt. Noch fünf Minuten. Fertigmachen zur Feuerfahrt. Doch bevor Andi die Fackeln per Gaskartusche entzündet, entnimmt er seinem Rucksack noch 17 kleine Fläschchen Jägermeister und verteilt sie. Nach einem dreifach brüllenden Skiheil kippen wir sie eini. Ich bekomme eine respektable Gänsehaut und spüre die Einmaligkeit dieses Moments.

Dann geht alles sehr schnell. Alle Fackeln funktionieren und wir setzen uns hochkonzentriert in Bewegung. Ich fühle mich besser, da die Fackeln die Szenerie gespenstisch erleuchten und man jetzt wenigstens einigermaßen sehen kann, wohin man fährt. Fünf rote Teufel schwingen vor mir und elf habe ich im Rücken. 200 Meter tiefer haut es den vor mir fahrenden Kollegen aus den Skiern. Ich höre das Klicken der auslösenden Bindungen, während ich an dem Stürzenden vorbeidrifte. Die Fackelabwurfstelle kommt in Sichtweite und der Lärm der Zuschauer im Zielraum schwillt an. Wie automatisch lasse ich die Fackel fallen, schwinge ein letztes Mal und schieße in Falllinie auf die rechts und links durch Fackelträger erleuchtete Runway zu. Was für ein Bild. Rudi Sailer hatte Recht. Man sieht wirklich nur das lodernde Feuer und kann die Rampe nur erahnen. Ein paar Sekunden später springe ich durch die mannshohen Flammen und lande sicher unter dem Jubel der Zuschauer, die sich dicht hinter den Absperrungen drängen. Sofort gehe ich in die Hocke und beobachte fasziniert die in schneller Abfolge springenden Kollegen. Einige von ihnen setzen noch eins drauf. Sie reißen im Sprung ihre Ski auseinander oder drehen sich vor der Landung noch einmal um die eigene Achse. Einem Snowboarder der Roten Teufel wird ob seiner artistischen Einlage besonderer Applaus zuteil.

Ich glühe, und meine Herz pocht immer noch wie wild. Glückshormone überschwemmen meinen Körper. Sogar dem zwischenzeitlich gestürzten Roten Teufel gelingt sein Sprung, wenn auch mit einiger Verspätung. Alle sind durchgekommen und kein Hupfer ist gegrillt worden. Das anschließende, ungefähr 20 Minuten währende und mit Musik untermalte phantastische Feuerwerk, erlebe ich wie in Trance. Jetzt bin ich wirklich ein Roter Teufel und schwöre mir, dass ich am ersten Jänner 2011 wieder dabei bin. So wahr mir Gott helfe.

Apropos Gott. Wer heute als Ski- oder Snowboardlehrer in den touristischen Hochburgen der Alpen diese Hochrisikosportarten betreibt, braucht einen guten Schutzengel. Denn während sich der durchschnittliche Skitourist nur ein paar Tage auf den Pisten bewegt, müssen wir jeden Tag ran. Bei einer solchen Verweildauer auf oft überfüllten Pisten kommt es bei einigen von uns früher oder später zum Crash. Viele verzichten zudem schon mal auf den freien Tag pro Woche und arbeiten in den zwei hoch frequentierten Monaten Januar und Februar durch. Wir kennen weder hitze- noch kältefrei und fahren immer. Ob ́s stürmt, schneit, friert, hagelt oder regnet. Bei schlechter und bei bester Sicht. Übrigens ist Letzteres gefährlicher. Denn, wenn die Sonne besonders brennt, brennen bei vielen Touristen die letzten Sicherungen durch. Vermeintlich geschützt durch Helm und Protektoren an Rücken, Brust, Schienbeinen und Knien, rasen junge Menschen auf Hightech Sportgeräten, die sie nicht wirklich kontrollieren können über die Pisten. Befeuert von Jagertee, Obstler oder Tequilla, um das Schlafdefizit des Vorabends auszugleichen. Keine Woche vergeht ohne near missings, also Beinahezusammenstöße mit durchgeknallten Rasern. 1996 hat es mich erwischt. Auf der Gran Risa in den Dolomiten. Ein Freund hatte die Kontrolle über seine Ski verloren und mich bei voller Fahrt gerammt. Während meines Fluges in den Steilhang erwischte mich die Stahlkante eines Ski und schlitzte mir das Gesicht vom Mund bis hin zur Nase auf. Hinzu kamen Kieferschäden, Zahnverlust, 4 gebrochene Rippen und ein Lungenriss. Eine schnelle Bergung mit Abtransport im Heli und geniale Chirurgen im Bozener Universitätsklinikum retteten mir damals das Leben. Bis heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn es auf der Piste eng wird. In den 30 Tagen, die ich jetzt hier bin, hat es vier von uns erwischt. Drei mal haben jugendliche Snowboarder Kollegen aus dem toten Winkel heraus umgemäht. Christine liegt noch immer mit komplizierten Brüchen und Lungenquetschung im Spital. Nur Archie, ein cooler achtzehnjähriger Schotte, der schon den argentinischen Skilehrerschein in der Tasche hat, ist selber schuld. Er bricht sich an seinem freien Tag beim Offroadfahren in unbekanntem Terrain den rechten Knöchel. Selten hat der Spruch dumm gelaufen so gut gepasst.

Zwei Schreckenszenarien verfolgen jeden Skilehrer bei der Ausübung seiner Tätigkeit. An erster Stelle rangiert natürlich der Unfall. Ganz egal, ob man schuld ist oder nicht. Ein wohlmöglich schwer verletzter Gast ist ein absolutes no go. Es gibt Skilehrer, die nach einem solchen Erlebnis die Schuhe an den berühmten Nagel hängen. Direkt danach kommt der Verlust von einem oder gar mehreren Schülern. Das geht schneller als man denkt. Es empfiehlt sich also an jeder Kreuzung oder Abbiegung zu warten und durchzuzählen.

Bislang sind meine Schüler von Verletzungen verschont geblieben. Allerdings musste ich zwischenzeitlich den Verlust eines Schülers verkraften.

Vulva, hieß dieser 16jährige hoch aufgeschossene und milchgesichtige Springinsfeld, der zusammen mit seinen Eltern aus Moskau angereist war. Durch die plötzliche Krankheit eines Kollegen musste ich einspringen und Nick, einem sportlichen, intelligenten 54(!)- jährigen Briten, den ich schon während der Ausbildung schätzen gelernt habe, zur Seite stehen. Während er mit den Eltern und Vulvas Schwesterchen Natascha gemütlich Sightseeing fährt, bin ich dazu auserkoren, Vulva zu begleiten. Viel mehr ist auch nicht drin. Denn Vulva fährt wie ein Mensch, der von klein an auf racen gelernt hatte und vollkommen angst- wie auch schmerzfrei ist. Der erkrankte Kollege war wohl ähnlich veranlagt und gute 30 Jahre jünger als ich. Vulva rast los und ich habe Mühe ihm zu folgen. Wie die meisten Russen legt er keinen Wert auf Unterricht. Er will einfach jemanden, mit dem er um die Wette fahren kann. Als Ziel hat er den so genannten Funpark vorgeschlagen, der sich im weit entfernten Jochberg befindet. Ich bin noch nie da gewesen und nutze die Zeit im Sessellift, um die Route dorthin ausfindig zu machen.

Als wir dort ankommen, stockt mir der Atem. Denn die Hauptattraktion der Anlage sind drei riesige in einander übergehende Halfpipes. Ohne Zögern fährt Vulva auf das ca. 3,50 Meter hohe Podest. Ich folge ihm und hoffe, dass er sich das Ganze angesichts der Furcht erregenden Perspektive noch einmal überlegt. Schließlich haben wir beide keine extrem kurzen Twin Tips unter den Füßen. Ich will nicht als Hasenfuß vor meinem Schüler da stehen, nehme allen Mut zusammen und stürze mich in die erste Halfpipe. Obwohl es nur ein paar Meter Durchmesser sind, ist der Katapulteffekt nach dem Auffifoahrn extrem. Ich schleudere unkontrolliert in die Höhe und bin überglücklich, als ich wie durch ein Wunder auf dem Scheitelpunkt der zweiten Pipe zum Stehen komme. Mein Blick geht zurück. Vulva stößt sich ab, schleudert in hohem Bogen an mir vorbei auf die dritte Pipe zu. Dermaßen aufgeschaukelt haut es ihn aus der dritten Welle wie einen Sputnik in die Höhe. Es folgt ein weiter Flug, der sein unrühmliches Ende in dem gut zwanzig Meter entfernten Fangzaun findet. Wie eine Spinne im Netz bleibt er regungslos im orangeroten Kunststoffgeflecht

liegen. Als ich dort ankomme, bin ich auf das Schlimmste gefasst. Doch Vulva erhebt sich, schüttelt sich kurz, lacht mich an und fährt schon wieder weiter Richtung Lift. Zum Glück lässt er es dabei bewenden und wir steuern die nächste schwarze Piste an. Ich sehne das Unterrichtsende herbei und falle Abends fix und fertig in meine Heia. Einen Tag noch und dann bin ich diesen Kamikazefahrer los!

Am nächsten Morgen ist Vulva wie ausgewechselt. Schon im ersten Sessellift schläft er, den Kopf auf den Schutzbügel gebettet, vor Erschöpfung ein. Ich weiß nicht, was er letzte Nacht getrieben hat, aber ich bin alles andere als unglücklich über diesen unerwarteten Schwächeanfall meines „Schülers“. Schon nach einer halben Stunde bittet er mich um einen break und wir steuern eine Hütte an. Mit verschwörerischer Miene kramt er aus seinem Bogneranorak eine Packung Zigaretten hervor, flüstert secret und setzt den Zeigefinger vor seine Lippen. Ich nicke und freue mich auf die Zigarettenpause.

Nachdem wir uns wieder in Bewegung gesetzt haben, wähle ich eine mittelschwere Abfahrt auf dem Pengelstein. Diesmal ist es Vulva, der Mühe hat mir zu folgen. Ich genieße das Gefühl, ihn endlich im Griff zu haben und lege noch einen Zahn zu. Als ich mich zwischendurch routinemäßig nach ihm umschaue, ist er verschwunden. Ich warte. Und warte und warte. Als er nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch nicht um die Ecke kommt, ist mein erster GAU als Skilehrer perfekt. Mir bleibt nichts anderes übrig als zur nächsten Station abzufahren und über mein Skilehrerlehrerhandy Nick zu verständigen, der mit dem Rest der Familie unterwegs ist. Ich erkläre ihm kurz die Situation und nenne ihm meinen aktuellen Standort. Kurze Zeit später ist er mit seiner Truppe zur Stelle. Vulvas Vater würdigt mich keines Blickes, nimmt über sein Handy Verbindung mit seinem verlorenen Sohn auf und gibt ihm unsere Position durch. Nachdem Vulva wieder zu uns gestoßen ist, erklärt er die Situation. Nach einem Sturz hat er mich aus den Augen verloren und ist an der nächsten Kreuzung schlicht und einfach falsch abgebogen. Ich bin froh, dass mein Fauxpas keine ernsthaften Konsequenzen zeitigt und schwöre mir, nie wieder einen Gast aus den Augen zu verlieren. Natürlich erhalte ich keine Kopeke Trinkgeld, während Nick reichlich bedacht wird.

Das Thema Trinkgeld ist gerade für die so genannten Anwärter von eminenter Bedeutung. Denn die reguläre Entlohnung ist alles andere als üppig. So ist man froh, wenn man sein Budget per Tipp aufbessern kann. Doch auch das will gelernt sein. Ich habe mich zwischenzeitlich darauf spezialisiert, meinen Gästen einen tout comfort zu bieten. Zu diesem Zweck packe ich bei gutem Wetter grundsätzlich meine schwere Nikon D 300 in den Rucksack und fotografiere meine Gäste in traumhafter Umgebung. Zudem biete ich eine Videoanalyse an. Schließlich lernen die Schüler am besten, wenn sie mit eigenen Augen

sehen, dass die Schulter falsch steht oder sie mit zuviel Rücklage unterwegs sind. Ein Skilehrer sollte sich nach meiner Auffassung auch nicht zu fein sein, einer erschöpften Dame die Ski zu tragen oder per Stock bei langen Ziehwegen oder Anstiegen Abschleppdienste zu leisten. Trotzdem. Man kann sich noch so bemühen. Trinkgeld zu bekommen ist reiner Zufall und von vielen Faktoren abhängig. So habe ich mir angewöhnt, grundsätzlich nicht mit einem Extrasalär zu rechnen. Schließlich ist Privat- oder Gruppenunterricht bei den Roten Teufeln nicht billig, aber auf jeden Fall seinen Preis wert. Außerdem ist die Freude über einen unerwarteten Zusatzverdienst dann um so größer.

Mit der Zeit bekommt man ein Gefühl für Gäste, die per se spendabel sind und für diejenigen, die einen Igel in der Tasche spazieren fahren. Es gibt auch ein internes Nationenranking. Besonders generös sind Russen, dicht gefolgt von Österreichern und Deutschen, wobei die Schwaben hier eine Ausnahme bilden. Fast alle Gäste spendieren ihrem Instructor das Mittagessen und auch beim gemeinsamen Aprés Ski müssen wir selten die Brieftasche zücken. Doch die beste aller Entlohnungen ist die Freude über sichtbare Fortschritte und der herzliche, aufrichtige Dank beim Abschied.

Die schönsten Momente im Rahmen meiner Lehrtätigkeit am Berg habe ich einer sehr hübschen 13jährigen Anfängerin namens Annabelle aus Berlin zu verdanken. Während ihr Vater und die ältere Schwester einwandfrei Ski fahren, ist es für sie das allererste Mal. Entsprechend verhalten will sie die Sache angehen. Zudem ist sie zierlich gebaut und hat wie die meisten, die nicht das Glück hatten von klein auf diese vielleicht schönste aller Sportarten zu erlernen, schlicht und einfach Angst vor den rutschenden Dingern. Das A und O im Unterrichten von Anfängern besteht deshalb auch darin, dieser Angst vom ersten Moment an die Grundlage zu entziehen und Freude am Gleiten zu vermitteln. Mut machen heißt die Devise. Du willst, du kannst und es ist viel einfacher als Du denkst. Geschwindigkeit ist dein Freund. Je langsamer, umso schwieriger. Der Schnee ist weich. Lass dich fallen! Nach dem Erklären und Demonstrieren der Basics – hier ist weniger tatsächlich mehr – kommt es auf einer minimal geneigten Fläche zum ersten Erfolgserlebnis. Sie meistert auf Anhieb eine kontrollierte „Schussfahrt“. Hüftbreite parallele Skistellung, leicht nach vorne gebeugt und tief in den Knien. Sie strahlt übers ganze Gesicht. Nur zwei Stunden später meistert meine talentierte Anfängerin ihren ersten Aufstieg per Ankerlift und kurvt, beobachtet vom stolzen Herrn Papa, kontrolliert den Hang hinunter. Als wir uns vier Tage später verabschieden, ist aus der unsicheren Novizin aus dem Flachland eine selbstbewusste Skifahrerin geworden, die fortan bestimmt alles dafür geben wird, mindestens einmal im Jahr über den Dingen zu stehen und höchstes Glück zu empfinden.

An dieser Stelle einen Empfehlung an alle skibegeisterten Eltern, die ihren Sprösslingen das Skifoahn höchstpersönlich beibringen wollen. Egal wie gut ihr fahren könnt, gönnt Eurem Nachwuchs einen Skilehrer. Schon deswegen, weil es in der Natur der Sache liegt, dass Kinder von „Fremden“ eher etwas annehmen und sich leichter tun, Empfehlungen oder Anweisungen zu respektieren. Zudem sind gute Skifahrer nicht zwangsläufig gute Skilehrer, auch wenn sie sich das gerne einbilden. Nur Ausbildung schützt vor Einbildung! Ich kenne genug Fälle von ehrgeizigen Müttern oder Vätern, die ihren eigentlich aufgeschlossenen und unvoreingenommenen Kindern binnen Stunden die natürliche Begeisterung für das Skifahren gründlich ausgetrieben haben. Wer es dennoch versuchen will, dem sei nachfolgender Ratschlag ans Herz gelegt: Nehmt Eure Kinder niemals zwischen die Beine und vergesst Apparaturen, in denen die Kids eingezäumt wie Ackergäule an der langen Leine gehalten werden. Das Urvertrauen muss selbst erworben werden. Von der sanft geneigten Mulde mit Gegenhang über den ersten Hügel zum Berg. Immer step by step. Nur so werden kleine Anfänger mit der Zeit zu großen Könnern.

Ende Februar. Meine letzte Woche ist angebrochen und mein linker Fuß hat sich nach sieben durchgearbeiteten Tagen so eindrucksvoll zurück gemeldet, dass ich notgedrungen zwei Tage Pause einlegen muss und Elvira Wallner, unserer kaufmännischen Direktorin, meine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung überreiche. Die Zeit nutze ich, um hoch oben auf der Hocheckhütte sitzend, meine Reportage zu Ende zu schreiben. Ich beneide alle Kollegen, die den weißen Rausch bis zum Saisonende ausleben können. Andererseits freue ich mich auf meinen kleinen Sohn Felix, meinen „zweiten“ Beruf und natürlich auf meine nächste Saison in Kitzbühel. Zwischenzeitlich hatte ich neben den schon erwähnten Gästen noch eine famose Familie aus Athen, Constantin, einen 6jährigen Wunderläufer aus Wien, drei Damen aus Frankfurt am Main und zum Abschluss eine ganze Woche drei junge Buben von der schwäbischen Alp. Jochen, Martin und Christoph hießen diese Schwabenpfeile, die mich in ihrer Begeisterung für den Skisport an meine eigenen Anfänge erinnerten. Das einzige Problem bestand darin, sie zu verstehen, denn sie schwäbelten drauf los wie ihre Gosch gewachsen war.

Abschließend noch ein Wort zum Image unserer Zunft. Der geschätzte Leser möge mir nachsehen, dass ich mich diesbezüglich in erster Linie mit dem männlichen Exemplar des Skilehrers auseinandersetze. Denn auch diese ehemals maskuline Domäne ist längst perdu und auf zwei männliche kommt mittlerweile mindestens eine weibliche Teufelin. Das „schwache Geschlecht“ macht also immer mehr Boden gut und die Damen stehen uns Männern in punkto Können, Charme und Selbstbewusstsein in nichts nach.

Aber natürlich gibt es ihn noch. Den Prototypen des Skilehrers, der überzeugend jedes Klischee bedient. Trinkfest, bergerfahren, braungebrannt, bärenstark und immer auf der Jagd nach dem nächsten Skihaserl. Doch es sind auch immer mehr junge, aufgeschlossene und intelligente Menschen aus aller Herren Länder, denen es einen wahrhaft teuflischen Spaß bereitet, ihre Mitmenschen für etwas zu begeistern, was uns alle eint: Nämlich die Alpen, eine der schönsten Launen der Schöpfung, auf ganz besondere Art und Weise erfahren zu können und dabei elementare Werte wie Mut, Respekt, Harmonie, Verantwortung, Liebe und Leistung vorbildlich zu vermitteln. Schließlich ist Skifoan des leibanste, was ma si nur vorsteuin ko‘.

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Jenseits von Jochberg

Bildschirmfoto 2015-02-10 um 16.11.05Darüber, was sich die Verantwortlichen in den Rathäusern von Kirchberg und Kitzbühel gedacht haben, als sie vor kurzem einem Werbespot die Freigabe erteilten, der mehr Skiläufer zu ihnen locken soll, ist nichts bekannt. Aber dass Denken in diesem Falle eher keine Rolle gespielt haben dürfte, wird jedem klar, der die 20 Sekunden vor dem Bildschirm durchhält. Während die Kamera erst über Kirchberg und dann über den Hahnenkamm streichelt, versucht ein Off-Sprecher im Sprechstil der späten 80er Jahre Fassung zu bewahren. Er raunt von Bergen, die Skifahrer prägen und Legenden gebieren bevor er sich zu einer Behauptung versteigt, die junge oder aber sehr müde Werber ihren Auftraggebern meist dann vorschlagen, wenn sie nicht mehr weiter wissen und/oder keine Lust darauf haben, sich mit alten Säcken zu streiten. Wohl wissend, dass sie die Steigerung des Unmöglichen bemühen, zwingen sie den Semperoper-Premiumsprecher eine Version mit «Willkommen im besten Skigebiert der Welt» einzuspielen. So dumm es sich auch anhört, so etwas schafft Mehrheiten. Und da es heutzutage nicht sicher ist, dass alle zuhören, wenn so etwas Fundamentales für viel Geld unter die Leute gebracht wird, setzt man flugs noch einen Hund vor die Hütte, indem man das bereits Gesagte noch einmal fett aufs Bild druckt : «Das beste Skigebiet der Welt» . Si tacuisses …

Abgesehen davon, dass es keinem Skigebiet dieser Welt zukommt, sich diesen Elativ anzuziehen, ist Kirchberg genau so wenig Kitz wie Jochberg. Beide Dörfer sind schlicht Nachbarn des traditionsbeladenen Ortes. Deren Einwohner freuen sich darüber, Auffangstationen für all´ jene zu sein, die sich Kitzbühel nicht leisten können oder dort nicht wohnen wollen. Da der Kitzbühler an sich jedoch seinen Hals ein Leben lang nicht nicht voll genug bekommen kann, versucht er sozusagen auf Kirchberg komm raus aus dem berühmten Berg, der eine noch berühmtere Abfahrt beherbergt, eine Skiarena zu machen. Also wird Kirchberg flugs «eingemeindet» und Jochberg außen vor gelassen. Statt alle Nachbargemeinden hinzuzuziehen und mit einem «GREATER KITZBÜHEL» wenigstens touristisch internationales Format zu beweisen, wird die Kirche kleinkrämerisch im Dorf gelassen. Und in einem Größenwahn, der seinesgleichen sucht, wird aus einem im Verhältnis zu anderen europäischen Skigebieten wirklich überschaubaren Gelände einfach das «weltbeste» gemacht. Sauba, sog i.

Geht´s noch? Kitzbühels Klasse braucht weder Prädikat noch Propaganda! Kitzbühel ist Seiler, Streif, Sonnbühel, Mausefalle, Hocheckhütte, Hausbergkante und meinetwegen auch Hansi Hinterseer ganz in Weiß. Nach Kitzbühel reisen spleenige Briten genau so wie korrupte Russen, dekadente Südländer oder traditionsbewußte und neugierige Skifahrer aus der ganzen Welt. Alle wollen den Sehnsuchtsort erleben. Dort angekommen, vermischt sich alles zu einer wahrlich bizzarren Kombination aus neureichem Gschwerl, Romantik suchenden Bohemians und ambitionierten Sportlern, die von einer überschaubaren Clique unfassbar gieriger lokaler Honoratioren, Geschaffelhubern, Hoteliers und/oder Grundbesitzern ausgenommen werden wie die viel zitierte Weihnachtsgans. Glaubt mir, ich weiß, worüber ich schreibe, da ich als hospitierender Skilehrer mehrere Monate lang diese sehr speziellen Menschen dort kennen lernen «durfte» und ertragen musste. Allerdings haben sie mir die Freude am Skilaufen in dieser vom Herrgott so verwöhnten Region letzlich nicht vergällen können. Auch sei hier angemerkt, dass Kärtner, Salzburger und viele andere wirklich liebenswerte Österreicher ebenfalls herrliche Berge und Skigebiete bewirtschaften und Gäste Wert schätzen anstatt sie nur geringschätzig zu schröpfen.

Umso mehr freue ich mich darauf, Euch schon bald an dieser Stelle das (selbstverständlich subjektiv gesehene) «kompletteste Skigebiet Europas» vorstellen zu dürfen, das mir bislang unter die Bretter gekommen ist. Im Gegensatz zum Tiroler beschränke ich mich dabei auf die Alpen (A / CH / D / FR / ITA) . Denn die Rockies in den USA oder Kanada stehen genau so wie Neuseeland und Australien und der jenseits des Atlantiks hoffentlich anzutreffende Champagnerpuder noch auf meiner to do – Liste.

Wer es sich antun will, hier der Link: https://www.youtube.com/watch?v=kZQLIoMbTnY

Roter Teufel (Teil 2) – Mein Leben zwischen Himmel und Hölle

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17. Dezember. Es ist soweit. Die Theorie macht den Anfang. Gerade die Älteren unter uns sind besonders nervös. Haben wir doch seit Jahren keine Prüfung mehr ablegen müssen. Führerschein, Abi,Tauchschein, Segelschein – alles eine Ewigkeit her! Plötzlich ertappt man sich bei dem Gedanken, einen Spickzettel anlegen zu wollen. Katrin hat sich ein paar Formeln mit Kuli auf die Innenflächen ihrer Hände geschrieben und ich wiederhole mit geschlossenen Augen mantramäßig die 10 FIS-Gesetze. Doch alles geht glatt. Es zahlt sich aus, dass wir in den Abendstunden den Stoff brav repetiert haben. Als wir nach rund einer Stunde die Halle verlassen und uns für den praktischen Teil der Prüfung vorbereiten, sind wir guten Mutes.

Drei Prüfungen gilt es nun noch sicher und schulmäßig zu fahren. Neben dem Kurven und Carven Grundstufe, wartet noch der so genannte Trichter, den wir hinunter schwingen müssen. Dabei ist es wichtig, am Ende vor den aufmerksamen Augen der Prüfer in perfekter

Haltung zum Stillstand zu kommen. Einen Moment auf dem falschen Ski gestanden, und alles ist hin. Ich denke an meine Skischutzheiligen Toni Sailer und Luis Trenker und bitte sie um Beistand. Dreimal unbewegte Mienen. Ein gutes Zeichen. Zumindest dann, wenn man sich auf die nonverbale Kommunikation des Tirolers versteht.

Drei Stunden später hat der anfängliche Alptraum ein traumhaftes Ende. Die Jury befindet, dass wir ab sofort zum Skilehren im organisierten Skiraum befähigt sind. Wir sind glücklich und feiern ausgelassen. Allerdings spare ich mir den obligatorischen Gang ins Londoner, da es am nächsten Morgen vom Bahnhof Kitzbühel-Hahnenkamm über Wörgl und München zurück nach Berlin geht. Noch ein paar Tage bis zum Weihnachtsfest, das traditionell mit der Großfamilie in Aachen gefeiert wird und kürzer als sonst ausfallen wird. Denn am 26. Dezember müssen die neuen Teufel bis spätestes 18 Uhr im Büro zur Einkleidung erscheinen. Dann wird sich zeigen, was die Theorie in der Praxis wert ist und wie es sich anfühlt, im knallroten Toni Sailer-Outfit voraus zu fahren. Wer wird mein erster Schüler sein? Anfänger, Intermediate oder ein Könner? Kind, Frau, Mann oder gleich eine Gruppe? Daitscher, Österreicher, Engländer oder Russe? In wenigen Tagen werde ich es wissen.

Die Gans ist gegessen und Kitzbühel hat mich wieder. Mir wird der Skilehrerausweis und ein Handy mit den Kurzwahlen der Kollegen sowie den Nummern der diversen Rettungsdienste ausgehändigt. Hinzu kommt das Erste Hilfe Set für den Fall der Fälle. Alles ist unbedingt mitzuführen. Renate, die unter anderem für die Ausrüstung der Roten Teufel verantwortlich ist, kleidet mich noch am Abend des 2. Weihnachtsfeiertages ein. Ich bekomme wirklich fesche Gwänder nebst Stirnband, Mütze und mit unserem Logo bestickte schwere Lederhandschuhe. Klar, dass diese Ausrüstung nicht in die Taschen des gut geschnittenen Anoraks passt. Also investiere ich noch in einen speziellen Tourenrucksack, der es mir erlaubt, weitere nützliche Gegenstände wie Kamera, Wasserflasche, Sonnenschutzmittel, Ersatzmütze und ein zweites Paar Handschuhe auf der Piste mitzuführen.

Wie alle anderen, die noch keinen Gast haben, erscheine ich morgens um neun Uhr im Büro. Rudi Sailer jun., der Sohn des Skischulleiters, übergibt mir stumm ein winziges Zettelchen auf dem ein schwer zu entziffernder Name und 9.30 Uhr steht. Ich frage, ob der Kunde „Kasper“ heißt und ernte ein kurzes „Wos i net“. Als ich nach dem Treffpunkt frage, ist er mit seinen Gedanken schon wieder woanders, fixiert den Monitor vor sich und telefoniert mit einem seiner drei Telefone. Er ist der Einteiler, also eine Art Broker, der die Anfragen der Gäste sichtet und an die richtigen Kandidaten weiterleitet. Der Mann hat cirka 300 höchst unterschiedliche Typen im Kopf. Er kennt die Namen seiner Spezis und weiß – was noch viel wichtiger ist – wer welche Sprache spricht. Dies ist im doppelten Sinn zu verstehen.

Denn es geht nicht nur darum, einem russischen Gast einen Skilehrer zur Verfügung zu stellen, der nasdrowje versteht. Er muss auch wissen, inwieweit der Lehrer nervlich belastbar ist. Kommt sie mit einem schreienden, sich auf der Piste wälzenden Kind zurecht? Hat er das Durchsetzungsvermögen, um einer kapriziösen Millionärsgattin klar zu machen, dass auch Sie in der Liftschlange anstehen muss und in eine Sechs-Personengondel manchmal tatsächlich auch sieben Menschen drängen? Ein Job also, der viel Fingerspitzengefühl, eine ausgeprägte Menschenkenntnis und vor allem Timing abfordert. Zum Glück ist Rudi einer der besten Golfer der Alpenrepublik, arbeitet im Sommer als Pro (Handicap +4), hat ein überaus sensibles Händchen und blickt durch.

Resi, die gute Seele im Büro und eine Art Mutter der Kompanie, erbarmt sich meiner und erklärt mir, dass ich ins Hotel Erika muss, um den dort logierenden Gast in Empfang zu nehmen. Der Weg ist weit und die Zeit knapp. Also wackele ich im Schweinsgalopp, die neuen Skischuhe an den noch immer schmerzenden Füßen, Richtung Hotel. Ski auf der Schulter mit den Schaufeln in Laufrichtung. Wer sie unter dem Arm trägt und auf Ernst Hinterseer, den stellvertretenden Leiter der Skischule und Bruder des bekannten Tiroler Schmusebarden trifft, hat ganz schlechte Karten. Schwitzend komme ich an die Rezeption und erkundige mich nach einem Gast namens Kasper. „Sie meinen sicher Herrn Karpov“, entgegnet mir die freundliche Concierge und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Eine Viertelstunde später erscheint Mr. Karpov samt Gattin Margaux und einer siebenköpfigen Entourage. Sie ist eine Schönheit, Mitte 20 und spricht einwandfrei Englisch. Herr Karpov schenkt mir ein knappes Kopfnicken und sieht genau so aus wie man sich einen steinreichen Oligarchen vorzustellen hat. Groß, mit stattlichem Bauch und Gesichtszügen, die signalisieren, dass man diesem Mann besser nicht widerspricht. Im komfortablen Minibus und zwei BMW ́s geht es zur Fleckalmbahn. Ich frage mich insgeheim, wie die schweren Jungs wohl mit ihren Brettern zurecht kommen.

Oben angekommen, bedeutet mir ein Leibwächter, dass jetzt erstmal Gluhwein auf der Tagesordnung steht und ich trinke brav mit. Die mir angebotenen Fläschchen Jägermeister lehne ich jedoch höflich, aber bestimmt ab. Schließlich bin ich auch dazu da, Mrs. Karpov vor jeglicher Unbill zu schützen und möchte mir nicht vorzustellen, was passiert, wenn ihr etwas passiert. Ein halbwegs klarer Kopf empfiehlt sich also.

Endlich geht es auf die Piste. Die Männer lachen laut und bedenken sich mit derben Späßen. Zu meiner Überraschung fahren sie durchweg akzeptabel. Technische Mängel werden durch Schnelligkeit kompensiert.

Ein Kollege und Russenspezialist hat uns vorgewarnt und erklärt, dass es keine gute Idee ist, die mit einem unerschütterlichem Selbstbewusstsein ausgestatteten Russen zu kritisieren. Schon gar nicht dann, wenn Frauen in der Nähe sind. Also streue ich ein paar Euphemismen auf Englisch ein, von denen ich nicht weiß, ob sie überhaupt verstanden werden.

Die Jungs haben sichtlich Spaß und donnern wie Kanonenkugeln die zum Glück noch fast leeren Pisten herunter. Ich umkreise Margaux, fahre saubere Bögen vor und melde rechtzeitig jede auch noch so kleine Eisplatte auf der Piste. Gleichzeitig scanne ich den rückwärtigen Raum und halte jeden Snowboarder oder Skifahrer, der in der Nähe von uns fährt oder unsere Spur kreuzen will, im Auge. Bei fortgeschrittenen Snowboardern ist besondere Vorsicht angesagt. Man kann ihre plötzlichen Richtungswechsel schwer voraus ahnen und sollte immer auf den worst case gefasst sein. Schnell bemerke ich, dass mein rotes Gwand ungefähr dieselbe Wirkung hat wie die Schnauze eines Porsches im Rückspiegel eines Golffahrers auf der linken Spur der Autobahn. Die Leute machen schnell und bereitwillig Platz. Hinzu kommt, dass meine Russen jede Menge Schnee aufwirbeln, was ebenfalls hilfreich ist.

Nach eineinhalb Stunden Pistenspaß sind meine Moskowiter Schützlinge schon wieder durstig. Nicht etwa dehydriert. Das von mir zwischendurch angebotene Wasser hat nur Margaux konsumiert. Nein, jetzt muss etwas ran, was Herz und Seele erwärmt. Ich schlage die Sonnbühel vor. Eine Hütte, die von den meisten Skilehrern eher selten angefahren wird. Denn dort sind die Preise im Vergleich zu anderen alpinen Restos exorbitant und es gibt nicht die sonst üblichen Sonderpreise für Ski Instructors. Während der Ausbildung hat uns Beppo dort einmal auf einen Espresso eingeladen und mit maliziöser Miene erwähnt, dass hier die Chickimicki zuhaus san. Egal, jetzt san die Russ hier zuhaus und für diese Klientel ist das Beste gerade gut genug.

Kurze Zeit später sitzen wir an einem reich gedeckten Tisch 2000 Meter über dem Meer. Nach einem ausgedehnten Gelage bin ich froh, dass der Bindungseinstieg auf Anhieb funktioniert. Diverse Tequillas, heiße Witwen und ein sehr guter Weißwein lassen einen quasi von selbst schwingen. Auch die feste Kost war reichlich und von erlesener Qualität. Während ich mittags normalerweise eine Gulaschsuppe oder Tiroler Gröstel zu mir nehme, habe ich jetzt den angenehmen Nachgeschmack von Scampi in Knoblauch auf der Zunge. Angesichts der üppigen Bestellung verzieht der Kellner auch keine Miene als einer der stämmigen Bodyguards darauf besteht, Kaiserschmarrn mit Würstel auf seinen Teller zu bekommen. Eine Kombination, die hier sonst wohl nur bei schwangeren Frauen durchgehen würde.

Die Rechnung liegt im vierstelligen Bereich und mein Gastgeber zahlt mit einer Contenance, die klar macht, dass Geld für ihn kein Thema ist. Und doch ist ihm Eitelkeit wie Großmannsucht fremd. Er spreizt sich nicht wie viele der hier tafelnden Gäste. Mit einer angenehmen Selbstverständlichkeit genießt er den Service, achtet penibel darauf, dass jeder von allem genug bekommt und freut sich über die Freude des Kellners bei der Begleichung der Rechnung, die er um ein üppiges Trinkgeld aufstockt.

Die nächsten zwei Tage nehme ich Abends nur noch Yoghurt zu mir und verzichte auf das eigentlich obligatorische Bierchen unter Kollegen auf der Streifalm. Am Ende des dritten Skitages teilt mir Margaux mit, dass ich um 19 Uhr zum gemeinsamen Diner im Hotel Erika eingeladen bin. Ich erscheine pünktlich und werde freundlich begrüßt. Es gibt Bortsch nebst Zander und Wodka mit sauren Gürkchen. In Windeseile habe ich vier große Wodkas intus und taue auf. Meine Kunden wollen wissen, was ich im Sommer mache, und ich erzähle ihnen, dass ich meinen Lebensunterhalt mit Schreiben verdiene, was sie ganz offensichtlich nicht befriedigt. Ich murmele etwas von Literatur und erwähne Puschkin und Dostojewski. Plötzlich kommt mir eine Idee. Ich schlage vor, Rilkes berühmte Fabel Der Panther sehr frei interpretiert auf russische Art vorzutragen. Die Russen sind einverstanden und ein Dolmetscher wird an unseren Tisch beordert. Ich erhebe mich, trinke noch einen Wodka und setze an:

Mein Blick ist vom Vorüberziehen der Wodkas so müd ́ geworden, das er nichts mehr hält. Mir ist als ob es tausend Wodkas gäbe und hinter tausend Wodkas keine Welt.

Mein schwankend Gang geschmeidig starker Schritte, der meinen Kopf nun immer schneller dreht, ist wie ein Tanz um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht.

Doch endlich senkt sich sanft der Schleier der Pupille, es geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein.

Meine Gastgeber sind begeistert und wollen mehr. Mehr Wodka, mehr Gedichte. Nach zwei Zugaben entwickelt sich ein anregender Dialog über Musik, Literatur, Skifahren und all das, was Leben lebenswert macht. Es ist schon weit nach Mitternacht als ich mich sternhagelvoll, aber glücklich auf den Rückweg mache. Ich erwache ohne die Spur eines Katers und mache mich wieder auf den Weg ins Hotel. Ein gut gelaunter Alexander Karpov reicht mir die Hand,

nennt mich erstmals Gospodin und erklärt, dass ich heute frei habe, weil sie Curling spielen wollen. Ich schwebe beglückt davon und kann den ersten Tag seit meiner Ankunft frei laufen. Diesen Tag nutze ich, um das Gebiet und vor allem die unterschiedlichen Skirouten zu studieren. Denn in diesem Punkt haben unsere Ausbilder offensichtlich auf unsere autodidaktischen Fähigkeiten vertraut, was allerdings üble Folgen haben kann. Schließlich ist es fast unmöglich, in der Kürze der Zeit alle Pisten im Kopf zu haben. Zudem gibt es kaum etwas Peinlicheres als einen Skilehrer, der mit den Schultern zucken muss, wenn er nach dem Weg oder einer speziellen Abfahrt gefragt wird. Und, glauben Sie mir, wir werden oft gefragt!

So hatte ich von einer mittelschweren Talabfahrt nach Kirchberg gehört, die ich mit meinen Russen zum Abschluss eines langen Skitages testen will. Auf der Panoramakarte des Skigebietes habe ich mir die Nummer der Abfahrt eingeprägt. Zudem ist die Piste als rot klassifiziert und damit für durchschnittliche Skifahrer locker zu bewältigen. Doch der Zufall will, dass wir kurz vor dem Start unerwarteten Zuwachs bekommen. Das Funkgerät eines Begleiters piepst, es heißt stoj und nach wenigen Minuten kommt Karpovs cirka vierjährige Tochter in Begleitung der babuschka hinzu. Die Kleine bringt locker 20 Kilo auf die Waage und bekommt gerade mal den Schneepflug auf die Reihe. An ein Zurück ist jetzt nicht mehr zu denken. Es heißt Markusch, show us the way und los geht ́s.

Nach der Hälfte der Abfahrt ist das Kind am Ende seiner Kräfte. Also nehme ich das Mädchen zwischen die Beine und versuche sie auf diese Weise den Berg hinunter zu bringen. Nach kurzer Zeit brennen meine Oberschenkel wie Feuer und auch mein Rücken schickt in immer kürzeren Abständen üble Rückmeldungen. Hinzu kommt, dass die Piste eine Premiere für mich darstellt und ich an jeder Abzweigung ins Schwitzen komme. Sicherlich wird mein Gast mehr als nur die Stirn runzeln, wenn wir plötzlich wieder an einem Lift ankommen und nicht an der Talstation, wo die Abholer schon warten. Jetzt nur keine Unsicherheit zeigen, denke ich und tue so als würde ich die Strecke blind kennen. Verflucht, immer noch keine T alstation in Sicht. Die Kleine wird immer nervöser und meine überbeanspruchten Beine fangen an zu zittern wie Cavellinhos bei einer Schussfahrt. Es hilft nichts. Ich muss die Taktik ändern. Mit einem gequälten Grinsen übergebe ich Alexander die Skistöcke und klemme mir seine Tochter wie ein Bierfass unter den rechten Arm. So bin ich wesentlich schneller, aber das Risiko einer Verletzung bei einem möglichen Sturz steigt ebenfalls. Nach fünf Minuten nehme ich sie unter den linken Arm, um meine Bandscheiben wenigstens ausgeglichen zu schädigen. Als endlich die ersten Träger der Seilbahn auftauchen, kämpfe ich mit den Tränen. Meine Kunden schwärmen von der Abfahrt und loben meine Ortskenntnis. Ich sehe keinen Grund, sie zu korrigieren.

Der letzte Tag mit meinen ersten Gästen verläuft ohne besondere Vorkommnisse. Ich erhalte ein fettes Trinkgeld nebst einen Beutel mit gefrorenen Fischen. Wir verabschieden uns aufs Herzlichste und wünschen uns einen guten Rutsch ins Neue Jahr. In wenigen Stunden ist Silvester. Aber ich will nicht rutschen. Ich will springen! Traditionell steigt in Kitzbühel mit Einbruch der Dunkelheit am 1. Januar ein großes Fest im Zielraum der Streif. Mehr als 10.000 Schaulustige kommen zusammen, um ein Feuerwerk der Extraklasse zu erleben und die Galavorführung der Roten Teufel zu bewundern. Alle rund 300 Ski- und Snowboardlehrer müssen per Fackel im Zielhang die neue Jahreszahl illuminieren. Alle? Nein, nicht alle. Denn alljährlich drängt es eine Elite der Roten Teufeln zu einem nächtlichen Fackellauf mit anschließender Feuertaufe. Spätestens als Rudi Sailer Senior bei der ersten Vollversammlung aller Lehrerinnen und Lehrer im Kitzbühler Kolpinghaus das Ritual erwähnt und diejenigen, die es heuer wieder wagen wollen, eindringlich vor der Schanze, die man nit siekkt warnt, wächst in mir der Wunsch, dabei zu sein.

Doch der Wunsch allein reicht nicht, um dieser Truppe anzugehören. Es gilt, einen Testsprung über eine ca. 2,50hohe Schanze zu absolvieren, hinter der sich eine 2 x 2 Meter große Stahlwanne befindet, die wiederum einen Scheiterhaufen beheimatet. Die Probe findet bei Tageslicht und ohne Feuer statt, was der Sache einen zusätzlichen Kick beschert.

Ich feiere Silvester erstmals seit Jahren dezent und verzichte auf jeglichen Abusus. Gut ausgeschlafen, gleite ich am Nachmittag des 1. Jänner 2010 Richtung Zielraum. Als ich dort eintreffe, ist eine Pistenraupe schon dabei, das Katapult aus Schnee aufzuschichten. Ernst Hinterseer ist auch vor Ort und eine kleine Anzahl durchweg gut austrainierter Teufel. Ich packe meine Kamera aus und knipse ein paar Fotos. Dann machen sich die ersten Freiwilligen an den Aufstieg. Ich will mich dazu gesellen als Ernst auf mich zukommt. Er ist ein großer, schlanker, gut aussehender Mann, der auch einen amerikanischen Senator geben könnte. „Du willst doch nicht etwa hupfen“, sagt er mit ernster Miene „bischt doch fascht fuffzg!“. Ich grinse, pariere mit einem wenig überzeugenden „Na und?“ und steige im Pinguinschritt die cirka 60 Meter auffi. Na prima, denke ich mir und verfluche Ernst insgeheim für seine sicherlich gut gemeinte Warnung. Lass es, meldet meine linke Gehirnhälfte. Just do it, sagt die rechte.

Nachdem ich die ersten beiden Springer mit Argusaugen beobachtet habe, setze ich zur Schussfahrt an. Allerdings ohne mich wie die beiden Vorläufer kräftig abzustoßen und die Geschwindigkeit auf den ersten Metern per Schlittschuhschritt auch noch zu forcieren.

Es geht gerade so gut, da ich denkbar knapp hinter der Wanne aufsetze und froh bin, dass es mich nicht einihaut.

 

 

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Andi, ein junger Einheimischer, technischer Leiter der Roten Teufel und ein exzellenter Skifahrer befindet, dass ich noch einmal hupfen muss. Auch ein junger Holländer darf noch einmal aufsteigen. Diesmal steige ich ein paar Meter höher hinauf und gebe richtig Gas. Passt! Ich bin dabei. Als einer von 17 Hupfern werde ich durchs Feuer fliegen! Zusammen mit den anderen geht’s in die Kleiderkammer, um spezielle Anzüge anzulegen. Ich denke sofort an asbestverstärkte Textilien. Die Realität ist ernüchternd. Ich reiche Renate mein blitzsauberes Toni Sailer Outfit und erhalte ein Exemplar, das nur im Dunkeln gut aussieht. Man will wohl Nummer sicher gehen. Außerdem erfahre ich, dass man schon lang kainen Daitschen mehr grillt hat, was sich wenig vorteilhaft auf meine Psyche auswirkt.

DER LETZTE TEIL FOLGT AM 17. FEBRUAR 2015

Roter Teufel (Teil 1) – Mein Leben zwischen Himmel und Hölle

RoteTeufel-Anfang2Einmal als Skilehrer über die Pisten wedeln, bevor weiche Knie und ähnliche Alterszipperlein den Jugendtraum zunichte machen. Kurz vorm 50. Geburtstag habe ich es gewagt. Nicht irgendwo, sondern dort, wo sich die Besten des weißen Sports auf der legendären Streif alljährlich die Kante geben. Im österreichischen Kitzbühel (Tirol) bei der berühmten Skischule der „Roten Teufel“. Ein Erlebnisbericht.

Die Entscheidung stand innerhalb von Stunden. Katrin begegnete mir an einem grauen und verregneten Novembernachmittag in Berlin mit einem Lächeln, das von der Gewissheit gespeist war, schon bald wieder das Weite suchen zu können. Als Besitzerin einer gut nachgefragten Bungalowanlage auf Ibiza hat sie im Winter regelmäßig ihre free season. Normalerweise nutzt sie die Zeit, um nach Thailand zu fliegen und sich Gutes zu tun.

Diesmal jedoch überraschte sie mit einem Klimawechsel. Bei Kerzenlicht, Lammkeule und Rotwein erzählt sie, dass sie in wenigen Tagen nach Österreich abzureisen gedenke, um in Kitzbühel die 11-tägige Anwärterprüfung zur Skilehrererin bei den Roten Teufeln abzulegen. Da schon am nächsten Tag Anmeldeschluss ist, bleibt keine Zeit, um abzuwägen oder zu hinterfragen. Ganze zehn Tage bleiben mir noch, um die notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Meinen kleinen Sohn trösten, Kunden informieren und all ́ das, was man vor einer längeren Alpenmission noch regeln sollte.

Am Samstagmorgen des 5. Dezember besteige ich also – bepackt wie ein indischer Lastenelefant – den ICE via München, wo mich Katrin sechs Stunden später in Empfang nimmt. In ihrem gefühlten 20 Jahre alten Passat geht es dorthin, wo wir uns seit frühester Kindheit am wohlsten fühlen. In die Berge. Dorthin, wo uns die Lust an der Luft den Atem raubt und wir automatisch tiefer inhalieren, weil wir wissen, dass das hier noch richtig gesund ist.

Kitzbühel empfängt uns kühl und mit Schneefall. Im Dunkeln müssen wir das uns zugedachte Skilehrerheim in der Schattbergsiedlung finden, die sich ganz in der Nähe der berühmten Hahnenkammbahn befinden soll. Nachdem wir zwischenzeitlich tief verschneiten Vorgarten einer großzügig angelegten Villa herumgestapft sind, stellen wir alsbald fest, dass sich unsere, etwas bescheidenere Bleibe, auf dem Nachbarsgrund befindet

Miro, ein sympathischer Pole Anfang 30, ist schon vor einer Stunde eingetroffen und scheint sichtlich erleichtert darüber zu sein, dass er nicht mehr allein ist. Müde und mit glanzlosen Augen schauen wir uns die Räumlichkeiten an. Was wir sehen reicht, um verwöhnten Zeitgenossen psychologische Betreuung zuzubilligen. Uns wird klar, dass wir den günstigen Unterbringungspreis von 170 Eurotalern für elf Tage mit einem weitgehenden Verzicht auf hygienische Standards bezahlen werden. Auch Katrin, eine Frau zum Pferdestehlen schluckt kurz. Nach einer schnellen Worst Case Analyse entscheiden wir uns für das einzige Zweibettzimmer auf der Bel Etage mit Balkon, Kleiderschrank und Waschbecken samt Spiegel. Andere trifft es härter. Nach der Devise „wer zu spät kommt, den bestraft sein Lager“, müssen spätnachts eintreffende Skilehreraspiranten ihr müdes Haupt auf Matratzen ohne Rost im Fünfbettzimmer betten und aus dem Koffer leben. Nach einem schnellen Bierchen in der ungemütlichen Küche kehrt Ruhe ein. Dass es sich dabei um die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm handelt, ahnen wir nicht.

Rudi Sailer Senior, Leiter der Skischule, Bruder des österreichischen Jahrhundertsportlers Toni und selbst ehemaliger Rennläufer und Olympionike, hat sich mit Petrus abgesprochen

und gleich zum Einstand bei seinen Roten Teufeln eine Wetterhölle zusammen gebraut. Das Thermometer zeigt Minus 17 Grad. Genau die richtige Temperatur um daitschen Anwärtern Anspruchsdenken, Wehleidigkeit und Selbstüberschätzung auszutreiben. Als wir die Gondel der Fleckalmbahn in Kirchberg bei Kitzbühel verlassen, empfängt uns ein eisiger Schneesturm, dem die Anno 1978 in den Dolomiten erstandene Ostersonnenskijacke nichts entgegen zu setzen vermag. Meine Hände stecken in Skihandschuhen, die den Namen nicht verdienen und wenige Zentimeter weiter unten nimmt eine andere Geschichte ihren schmerzhaften Anlauf. Meine guten alten Skischuhe sind mutiert. Oder sind es die Füße, die mir meinen letzten Marathonlauf noch übel nehmen? Ich beruhige mich damit, dass es doch immer ein paar Tage braucht, um sich den alpinen Bedingungen anzupassen. Doch das soll ich im Laufe der nächsten Tage noch bereuen.

Der Großwetterlage entsprechend, fällt die Begrüßung unseres Ausbilders frostig aus. Beppo heißt der Bilderbuchtiroler, der von nun an über Wohl und Wehe unserer Karriere befinden wird. Sein Urteil wird maßgeblich darüber entscheiden, ob das Dasein auf zwei Brettern, die mir schon immer auch ein zweites Leben bedeutet haben, formidablen neuen Schwung erfährt oder sich in einem einsamen Ziehweg verliert. Ich beruhige mich damit, dass ich zumindest in punkto Ski bestens ausgerüstet bin. Ralf, ein Freund aus Berlin, hat mir seinen Atomic Slalom Carver Ski ausgeliehen. Also einen Ski der Marke, die hierzulande schon aus Lokalpatriotismus gerne gesehen wird. Ein Atomic sollte dann auch fünf Wochen später die weltberühmte Abfahrt auf der Streif in Bestzeit attackieren. Allerdings von Schweizerfüßen dirigiert, was den Töchtern und Söhnen der Alpenrepublik gar nicht gefallen hat. Aber der Reihe nach.

Unser Kurs beginnt mit einer kurzen Demonstration des so genannten Eigenkönnens. Jeder der insgesamt neun Anwärter muss unter den aufmerksamen Augen von Beppo einen mäßig geneigten Hang obi schwingen. Souverän wedele ich die kurze Strecke hinunter. Doch weder Lob noch Kopfnicken. Stattdessen gibt Beppo in wenigen Worten – merke: der Tiroler an sich fasst sich gerne kurz – zu verstehen, dass ich „zu weit hinten sitze“ und „sich dös nit ausgeht“. Auch Katrin, die schon als 3-jährige in St. Anton am Arlberg bei Karl Schranz höchstpersönlich das Bretterln erlernte, erntet kein Wohlwollen. Mir wird klar, dass wir uns hier im doppelten Sinne warm anziehen müssen. Als wir gegen 13 Uhr mit beschlagenen Skibrillen in eine typische Tiroler Hütte hereinpoltern, dauert es, bis sich die verfrorenen Gesichtszüge wieder entspannen. Doch kaum ist die Fritatensuppe mit Brot ausgelöffelt, geht’s schon wieder aussi. Wenn man jetzt wenigstens mal 15 Minuten nach Herzenslust Skifoahn könnte. Doch daran ist nicht zu denken. Beppo nimmt seine Aufgabe sehr ernst und liebt den theoretischen Vortrag. Wir stehen derweil stocksteif am Hang und frieren

jämmerlich. Meine Füße spüre ich so wenig wie meine Hände. Hinzu kommen deprimierende Übungen, die wir zuletzt im Alter von sechs Jahren gefahren sind. Schneepflug und Kurven an einem Hang, der diese Bezeichnung nicht verdient. Natürlich hat das einen tieferen Sinn. Denn je langsamer man fährt, umso schwieriger ist es, dem geforderten alpinen Fahrverhalten nachzukommen.

Gegen 15 Uhr entkommen wir endlich der weißen Hölle vom Hahnenkamm. Wenig später finden wir uns müde und abgekämpft in der schmuck- und fensterlosen Allzweckhalle der Gemeinde Kirchberg wieder. Theorie steht auf dem Programm. Materialkunde, Schutz der Umwelt, methodische Grundsätze, Erste Hilfe und noch mehr von dem was, ein Skilehrer später ahnungslosen Anfängern vermitteln soll. Allein der Geruch von 300 schwitzenden Probanden verschlägt einem den Atem. Die Aufnahmefähigkeit geht gen Null und wir amüsieren uns über diejenigen, die den Strapazen des Tagesnichts mehr entgegen setzen können und sitzend eingeschlafen sind.

Zwei Stunden später verlassen wir die Halle. Draußen ist es dunkel und der Schneefall einem Eisregen gewichen. Also zuerst mal blinde Scheiben frei kratzen. Wir fluchen was das Zeug hält und wollen endlich nach „Hause“. Dort angekommen fallen wir todmüde in unsere Betten. An eine Nachbearbeitung der Theorie ist nicht zu denken. Schließlich müssen wir um sieben Uhr Morgens wieder raus und brauchen jede Stunde Schlaf.

Die folgende Woche erinnert fatal an den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Ein Tag gleicht dem anderen. Zudem wird es immer kälter. Der Himmel ist mal grau, mal nebelverhangen und der Wind scheint uns den Wunsch, Skilehrer werden zu wollen, aus dem Hirn blasen zu wollen. Meinen Füßen ist trotz teurer Skisocken nicht mehr zu helfen. Sie sind beleidigt und lassen mich das bei jedem Schwung spüren. Notgedrungen wird die knapp bemessene freie Zeit genutzt, um diverse Skischuhe auszuleihen. Doch auch Marken wie Lange oder Rossignol scheinen nicht für meinen Leisten ausgelegt zu sein. Allein der legendäre Strolz könnte eventuell Linderung verschaffen, aber der Preis schreckt mich ab. Also, Zehen zusammenkneifen, salben, verpflastern und durch. Sind ja nur noch ein paar Tage, denke ich und tröste mich damit, dass ich mich nach bestandener Prüfung für die Weihnachtstage nach Berlin absetzen und die Füße hochlegen kann.

Am neunten Tag endlich die Wetterwende. Nach Durchstoßen der Wolkendecke in der Kabine der Bergbahn empfängt uns oben blauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Wenn es auch noch bitter kalt ist. Das schmerzlich vermisste Sonnenlicht entfaltet seine heilende Wirkung. Der Schnee ist nicht länger stumpf. Er glitzert. Hatten wir bisher oft nur

100 Meter Sicht, eröffnet sich uns nun erstmalig das grandiose Bergpanorama der Kitzbühler Alpen. Auch der österreichische Bergkönig namens Großglockner lässt sich in der Ferne ausmachen. Sogar Beppos Miene hellt auf. Zwar ist er immer noch der Meinung, dass ich beim Kurven aussehe, als würde ich „a Handy am Ohr haben“, doch immerhin kommt ihm schon mal ein „dös geht sich aus“ über die Lippen. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich pauke wie alle anderen Theorie auf Teufel komm raus. Noch zwei Tage bis zur Prüfung.

Genau einmal sind wir ausgegangen und haben Kitzbühel bei Nacht erlebt. Als Russen! Katrin überrascht uns mit einer erstaunlichen Anzahl von mitgeführten Pelzmützen. Zusammen mit unserer Festtagsgarderobe werden wir dem Klischee der reichen Biznessmen durchaus gerecht. Ein paar pseudorussische Redensarten reichen aus und die Ehrfurcht der hiesigen Gastronomie wird uns ad hoc zuteil. Natürlich wundert man sich anfangs über unsere Getränkewünsche, aber wahrscheinlich denken sich die Herren der Edelschänken, dass die Russ halt einmal low profile unterwegs sind. Spätestens im Fünferl ist eh ́ nicht mehr auszumachen, zu wem welche Magnumflasche gehört. Wir lassen uns vom alkoholisierten Frohsinn anstecken und schunkeln zu Alpenevergreens wie Skifoahn, Heim nach Rosenheim und Speedy Gonzales.

Das Lokal ist proppenvoll und selbst, wenn man umfallen wollte, würde der Platz dafür nicht ausreichen. Dank Katrin, die wie eine russische Zarin auftritt, haben wir schnell einen lebensfrohen beleibten Sponsor gewonnen, der uns frei hält. Gegen 4 Uhr in der Frühe kehren wir in zurück. Der Tag danach macht uns klar, dass sich Aprés Ski und Ausbildung zusammen nit ausgeht. FORTSETZUNG FOLGT AM 10. FEBRUAR 2015

Von der Freude am Führen

Speibl&Hurvinek

Mein Dejavue mit Spejbl und Hurvinek in der URANIA

Wer wie ich als Kind während der 60er Jahre in beiden Teilen Deutschlands unterwegs war, kann sich für den Rest seines Lebens glücklich schätzen. Schon deswegen, weil man im Idealfall das Beste aus zwei sehr unterschiedlichen Welten mit bekam. In Sachen Entertainment überzeugte beispielsweise die Hardware aus dem Westen, während die in kultureller Hinsicht außergewöhnlich hochwertige Software oft aus dem Osten kam, um anschließend im befreiten Sektor wertgeschätzt zu werden.

Konkret hieß unsere Playstation Schneewittchensarg und Kids waren „cool“, sobald sie in der Lage waren, so eine Mordsanlage eigenverantwortlich bedienen zu können. Statt Tausende von Tonträgern auf diversen Festplatten zu speichern, hatte jeder von uns ein gutes Dutzend feste Lieblingsplatten. Die ETERNA Platte mit den Stimmen von zwei im Ostblock tätigen Freaks mit außergewöhnlich großen Ohren gehörte dazu. Sie steckte in einem sehr schlicht gestalteten Cover auf dem „Spejbl und Hurvinek“ zu lesen war. Meine Geschwister und ich haben sie alle paar Wochen aufgelegt und uns jedes Mal aufs Neue weggelacht. Verdammt lang her.

Danach habe ich mehr als dreißig Jahre nichts mehr von den beiden gehört. Allerdings bin ich mir im Nachhinein absolut sicher, dass ich sie auf Anhieb wiedererkannt hätte. Allein der Ohren wegen. Dass der Sohn von Joseph Spejbl, also der Hurvinek schon damals eine Freundin namens Mánicka hatte, ihre Oma Katerina hieß und ein gewisser Jerry beiden gehorchte, weil er ihr Hund war, hat mir mein Gedächtnis zwischenzeitlich komplett durchgehen lassen.

Vorvorgestern kam es dann nicht nur zu einem Wiederhören, sondern zu meiner ersten Begegnung mit den weltberühmten Marionetten des tschechischen Puppenspielers Josef Skupa auf der großen Bühne der Berliner URANIA. Ein Umstand, den ich ursächlich meinem Sohn Felix verdanke.
Am Mittwochnachmittag der vergangenen Woche waren wir gerade dabei, die Grunewaldschule zu verlassen, als ich die Helden meiner Kindheit im Flur hängend erblickte und ihm die rhetorische Frage stellte, ob er die beiden Typen mit den gigantischen Ohren auf dem Poster da drüben schon mal irgendwo gesehen hätte. Die erwartete Antwort kam in Form eines Kopfschüttelns, während ich meinen Arm ausstreckte, um mir per iPhone ein genaues Bild von allem zu machen.

Dass die Vorstellung eventuell erst um 20 Uhr beginnen würde war mir genau so schnuppe wie die Tatsache, dass Felix das empfohlene Mindestalter von 12 Jahren um drei Jahre nach unten verfehlen würde. „Passt schon“ murmelte ich und versuchte vergeblich mir mein Alter beim Erstkontakt in Erinnerung zu rufen. Auch hoffte ich inständig, dass ich diesmal mehr Fortune haben würde als es beim letzten „Let me entertain you“ Versuch an Sylvester der Fall war. Denn nach einem relativ souveränen Start mit dem „Diner for One“ musste ich wenig später – nach gerade mal dreißig Minuten Laufzeit der Feuerzangenbowle – einigermaßen frustriert einsehen, dass weder ein vertrottelter Pauker mit Dampfmaschine noch der von Heinz Rühmann verkörperte „Pfeiffer mit drei f“ ausreichten, um meinem 2005 geborenen Pennäler in spe auch nur ein müdes Grinsen oder wenigstens ein anerkennendes „krass“ entlocken zu können.

Da eine der insgesamt vier Vorstellungen noch nicht ganz ausverkauft war, hatten wir Glück. Ich organisierte zwei Karten für die Spätvorstellung am folgenden Samstag. Zwei Tage später saßen wir mit dem Rücken zur Wand im Humboldt-Saal und ich war mindestens so gespannt wie mein Sohn. Dessen aktuell größte Sorge war es, womöglich „gleich nichts sehen zu können, wenn die vor uns doch noch kommen“. Ich betrachtete die Szene wachstumsbedingt zwar von höherem Niveau aus, bereute aber aufgrund der respektablen Entfernung zur Bühne kein Operglas dabei zu haben und ertappte mich dabei, über „pro“ und „contra“ einer Augenoperation nachzudenken. „Felix, der Ton macht hier die Musik“, hörte ich mich in dem Augenblick sagen als die bis dahin direkt vor uns frei gebliebenen Plätze doch noch ihre Besetzer fanden. Zwei wahre Riesen ließen sich nieder und nur das „Glück der letzten Reihe“ verhinderte den Rücksturz vom Multimediaspektakel zum schnöden Hörspiel. Also nahmen wir auf den hochgeklappten Lehnen „Platz“, da wir ja auf niemanden hinter uns Rücksicht nehmen mussten.

Speibl&Hurvinek2

Um es vorwegzunehmen: Selbst wenn wir nichts gesehen hätten, wären wir dennoch auf unsere Kosten gekommen! Die Kombination aus allwissendem, dozierenden Vater und provokant nachfragendem, wortgewitzten Sohn funktionierte damals schon und verfängt auch noch heute. Faszinierend wie Martin Klásek Spejbl und Hurvinek seine Stimme leiht, während Helena Stáchová kongenial Hurvineks Freundin Mánicka und Großmutter Katerina Gehör verschafft. Das visuelle Erleben ergänzte dieses leider endliche Vergnügen zusätzlich. So ließen uns die virtuosen Strippenzieher im Halbdunkeln manchmal fast vergessen, dass die Stars des Abends aus schlichtem Holz geschnitzt sind.

Dafür, dass die Dialoge abwechslungsreich rüberkamen und weder aufgesetzt noch ermüdend wirkten, sorgten gut getimte Pointen. Mal nüchtern ironisch dann wieder albern sarkastisch vorgetragen, nahmen sie Dinge aufs Korn, die offensichtlich Unsinn sind, aber für viele unter uns normal geworden sind. Auch erfuhren wir, dass der Plural von „Lebensgefahr“ „Lebensgefährten“ heißt und warum an der Liebe zu dritt besonders Rechtsanwälte Gefallen finden. Logisch, dass mein Filius nicht alle Doppeldeutigkeiten und Wortspielereien nachvollziehen konnte. Aber im Gegensatz zu den per TV oder Radio tagtäglich vermittelten Geschmacklosigkeiten, die uns Erziehenden hin und wieder die Schamesröte ins Gesicht treiben, hatte das Fremdschämen vor dem Nachwuchs hier keine Chance. Stattdessen gab es einfache, aber sehr humorvolle Ratschläge für die Stressbewältigung im Schulalltag. „Kann man eigentlich für etwas bestraft werden, das man gar nicht gemacht hat?“ fragte der meist komplett schmerzbefreite Hurvinek einmal die naive Mánicka. „Sicher nicht“, erwiderte diese treuherzig und lieferte ihm prompt das willkommene Argument dafür, in der Schule faul sein zu können, ohne eine Strafe fürchten zu müssen. Klar, dass sich mein Sohn diesen Spaß merkt!

Speibl&Hurvinek3

Kurz vor Schluss erfähert dieses ungewöhnliche Puppenspiel dann noch eine gesellschaftspolitisch interessante Wendung. Völlig überraschend geraten Vater und Sohn in eine mittelschwere Sinnkrise. Sie verfluchen ihre einseitige „Abhängigkeit“, beklagen, dass sie der „Führungsebene“ hilflos ausgeliefert sind und müssen erkennen, dass sie nur Marionetten eines Systems sind und als Holzköpfe kein Selbstbestimmungsrecht genießen. Sie schauen nach oben zu den Menschen, die sie wie Puppen ganz nach Lust und Laune tanzen lassen. Wurde eben noch gelacht und gescherzt, wird es jetzt merklich stiller im Auditorium. Zu stimmig sind die offenkundigen Parallelen zwischen Spiel und Wirklichkeit. „Wer nicht mitzieht oder sich in Widersprüchen verheddert“, gibt Spejbl seinem Sohn in ungewohnt melancholischer Tonlage zu verstehen, „wird heutzutage schneller fallen gelassen und gnadenlos abgehängt“. Daher sei es wichtig auf dem rechten Weg zu bleiben doziert er, um den folgenden Abgang der Generationen im militärisch inszenierten Rechts-Links-Rhythmus zu absolvieren. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Dann fällt der Vorhang. Lang anhaltender, großer Beifall brandet auf bevor die herrlich verrückte Zugabe in Form einer Rotkäppchengroteske endgültig eine Vorstellung beendet, wie wir sie uns schöner nicht hätten vorstellen können.